1995, als ein Telefon noch ein Telefon war, eine Uhr eine Uhr, richtete die TG RE Schwelm ihre erste Westdeutsche Meisterschaft aus. Da Schwelm noch keine eigene 3-Fachhalle hatte, durften wir das Landesfinale in Ennepetal austragen.
Das ist mittlerweile ein Vierteljahrhundert her, aber mir sehr gut in Erinnerung geblieben. Diese Meisterschaften sind für mich einfach unvergesslich! An Dramaturgie und Emotionen bis heute unübertroffen, mit dem Gewinn des Titels, dem Weg dorthin und der Bindung von Mannschaft und Trainer.
Vorweg möchte ich berichten, dass es damals andere Regeln gab als heute. Der größte Unterschied war die Qualifikation zu den Westdeutschen, denn der Ausrichter einer Westdeutschen war schon vor einer Saison qualifiziert. Gut gemeint, aber am normalen Jugendspielbetrieb durfte ein Team nicht teilnehmen. Eine komplette Saison vor Westdeutschen ohne Wettkampfpraxis. Trainer konnten damals nur erahnen wo das eigene Team stand, in welcher Verfassung sie waren. Die Möglichkeit in einer älteren Liga zu melden gab es damals nicht.
Aber auch andere Regeln waren anders als heute, so war ein Satz mit 15 Punkten bereits beendet, Punkte konnten nur bei eigenem Aufschlag erzielt werden und einen Libero kannte man vielleicht nur aus dem Fußball bzw. aus der Serie „Manni, der Libero“. Auch wurde das Halbfinale und Finale noch über 3 Gewinnsätze gespielt. Trainer konnten im Gegensatz zu heute taktieren und sich Wege bis ins Finale ausrechnen und unbequemen Gegnern in einer frühen Phase der Meisterschaften umgehen.
In der B-Jugend (Jahrgang 1978/79) gab es vier Vereine, die in der Lage waren um den Titel zu spielen. Das waren Bayer Leverkusen, VfL Gladbeck, Bayer Wuppertal und wir, die TG RE Schwelm.
Aufgrund der mangelnden Wettkampfpraxis und des praktischen Nichtvorhandenseins in einer Liga, waren wir aus dem Fokus des potentiellen Meisterschaftskandidaten gerückt. Die Rolle nahmen vor allem Bayer Leverkusen und Bayer Wuppertal ein. Letztere waren sich schon vor dem Turnier fast sicher die neue Nr. 1 in NRW zu werden.
In der Vorrundengruppe trafen wir mit Rote Erde auf den TuS Linnich und dem VfL Gladbeck. Gegen Linnich gab es das erwartete und deutliche 2:0, ebenso gewann Gladbeck das Spiel gegen den TuS. Jetzt musste nach 2 gespielten Spielen geschaut werden, wie die Ergebnisse auf den anderen Feldern waren. Für die Schwelmer ging es darum dem vermeintlich stärksten Konkurrenten mit Bayer Leverkusen im Halbfinale aus dem Weg zu gehen. Leverkusen und Wuppertal hatten sich in ihren beiden Gruppen bereits als Vorrundensieger durchgesetzt, die Gegner aus der Parallelgruppe Schwelms waren beide „machbar“, erst recht der Gruppensieger mit Rot-Weiß Röttgen. Demnach musste das Spiel gegen Gladbeck nicht unbedingt gewonnen werden. Ich entschloss mich das Spiel mit der zweiten Garde spielen zu lassen, welches wir erwartungsgemäß verloren, wenn auch nur knapp mit 1:2.
Die Taktik war aufgegangen und ich war stolz, dass die „Ersatzspieler“ so bravourös gespielt hatten. Hingegen Fassungslosigkeit bei Spielern und Eltern. Dabei ging es weniger um die Niederlage, sondern um mein Taktieren. Mit einem Schlag war das gute Verhältnis von Mannschaft und mir als Trainer jäh unterbrochen. Nur Widerwillig spielte mein Team die Zwischenrunde, die sie mit 2:0 gegen Röttgen gewannen. Eine Krisensitzung und viele Gespräche folgten noch während des weiteren Turnierverlaufs. Schlussendlich musste ich einsehen, dass eine gut gemeinte Taktik auf wenig Gegenliebe im Team traf. Ein Riss, der Samstag nicht zu kitten war. Also, eine Nacht drüber schlafen und eine weitere Krisensitzung am frühen Sonntagmorgen mit einem Bestechungsversuch.
Jugendliche sind aber nicht so einfach zu bestechen, auch wenn die leckeren frischen Brötchen als Bestechung schon einmal einen guten Weg ebneten. Vielmehr war es die Vorbereitung und die Fakten, die ich in einer schlaflosen Nacht gesammelt hatte und präsentieren konnte. So musste z.B. die „Schande von Gijon“ (Nichtangriffspakt Deutschland – Österreich, bei der Fußball WM 1982 in Spanien) als eine Erklärung herhalten. Gut, nicht unbedingt ein Highlight der Fußballgeschichte und des Fairplay, aber ein Mittel zum Zweck. Zudem zeigte ich an diversen Beispielen auf, dass im Volleyball diese Taktik Gang und Gäbe ist. Ich konnte meine Spieler überzeugen, die Lage beruhigte sich.
Dann stellte sich aber heraus, dass die Taktik gar nicht der Primärgrund war, sondern die pure Angst vor dem Halbfinalgegner Bayer Wuppertal, dem selbsternannten neuen Westdeutschen Meister. Anders als ich, schätzte das Team Wuppertal stärker als Leverkusen ein. Prima, so kurz vor der Abfahrt die Wahrheit zu erfahren, Jugendliche eben. „Du Geri, was ist wenn deine Taktik nicht aufgeht?“ Man muss dazu auch wissen, dass uns Bayer in einem Freundschaftsspiel zwei Monate zuvor regelrecht mit einem 0:5 „verprügelt“ hatte. Okay, dachte ich mir, das ist der wahre Grund. Ich erwiderte mit einem ganz gelassenen Augenzwinkern, alles nur Taktik! Wir werden gewinnen, vertraut mir! Ich gab den Jungs ein paar Tricks an die Hand und wir schworen uns als Team neu ein.
Trotz dieser frühen Sondereinheit, der Brötchen und den Tricks war die Anspannung der RE-Spieler gegen 11:00 Uhr des 27.03.1995 extrem.
„Rumble in the Jungle“ – Atmosphäre in Ennepetal, die Zuschauer beider Lager tobten und trieben ihre Jungs, ihre Teams an. Es war ein Spiel zu erwarten, wo der Herausforderer Bayer Wuppertal dem Westdeutschen Meister Rote Erde von 1993 eine Lektion erteilen wollte.
Die Jungs von Bayer, mit Trainer Lars Koch-Mehrin, waren bombastisch drauf. Der Testosteronspiegel höher als bei zwei miteinander kämpfenden Moschusochsen in der Brunftzeit, jeder Ball beim Einschlagen ging fast bis unter die Decke. Mit entsprechenden Brunftlauten unterstrichen die Wuppertaler ihr Vorhaben das Spiel für sich zu entscheiden. Doch aller Laute und Gesten zum Trotz, waren die Schwelmer jetzt ruhig geworden und dachten sich ihren Teil. Meine Spieler schalteten den Kopf ein, erinnerten sich an die Tricks, während Bayer sich versuchte über die Kraft zu definieren.
Was dann folgte hätte niemand zu träumen gewagt. Eine Sensation, ein Urknall ein …, ein 15:0 im ersten Satz, ein 15:5 im zweiten und ein 15:8 im dritten Satz.
Ein eindeutigeres Ergebnis hatte es nie zuvor oder auch danach nicht mehr gegeben, wo zwei Mannschaften sich auf Augenhöhe begegneten und das Ergebnis so eindeutig war.
Die ausgetüftelte Taktik war erfolgreich aufgegangen, es war geschafft! Rote Erde Schwelm zog in das Finale ein, wie auch Bayer Leverkusen, die ebenso mit 3:0 Gladbeck im Halbfinale bezwungen hatten. Es kam zu einer Neuauflage des Finales von 1993, wo RE die Oberhand mit 2:1 behielt.
Das Finale um den Titel der Westdeutschen Meisterschaft 1995 war dann auch wieder eine recht klare Angelegenheit für die TG RE Schwelm. Satz 1 ging deutlich an die Hausherren, Leverkusen gewann Satz 2, bevor Magic Glitz & Co. ihre komplette Überlegenheit in den Sätzen 3 und 4 ausspielen konnten.
Westdeutscher Meister B-Jugend 1995: TG RE Schwelm
Die Spiele der Schwelmer:
Vorrunde:
TG RE Schwelm – TuS Linnich 2:0
TG RE Schwelm – VfL Gladbeck 1:2
Zwischenrunde:
TG RE Schwelm – RW Röttgen 2:0
Halbfinale:
TG RE Schwelm – SV Bayer Wuppertal 3:0
Finale:
TG RE Schwelm – TSV Bayer Leverkusen 3:1
Team RE Schwelm:
Albrecht Glitz, Jochen Lörpen, Hendrik Ronsdorf, Matthias Grams, Dennis Weber, Kai Brüggenkoch, René Sieber, Dennis Heinze, Klaas Prause, Arne Wilkes, Stefan Müller; "Dicki" Pflüger" und Karsten Weißgut
Trainer: Geri Duwe
Team Bayer Leverkusen:
Jann Habbinga, Jan und René Rimpler, Christian Schmidt, Jens Gottwald, Arndt Hartwich, Simon Timmer, Markus Koll, Johannes Schuldt und Andreas Zimmermann.
Trainer: Ingo Schadwinkel
Kuriose Geschichten rund um die Westdeutschen:
- Die TG RE Schwelm hatte als stärkstes Team ihres Jahrgangs keinen Auswahlspieler im Bereich des WVV. Albrecht Glitz schaffte es zwar kurz, wurde aber zusammen mit Jonas Reckermann als zu schlecht bewertet.
- Der VfL Gladbeck hatte 2 Auswahlspieler in ihren Reihen
- Bayer Wuppertal hatte zwei Auswahlspieler mit Oliver Preuß und Sebastian Landwehr aus dem Jahrgang 1978 und 3 aus dem Jahrgang 1979/80 mit Karl Strempel, Basti Preuß und Patrick Braunschweig
- Bayer Leverkusen hatte alleine 7 Spieler in den damaligen WVV Auswahl-Teams und einen Jugendnationalspieler mit Jann Habbinga. Der Jahrgang 1978 wurde vertreten durch Jan Rimpler und Christian Schmidt. Der jüngere Jahrgang mit Jens Gottwald, Johannes Schuldt, Simon Timmer und René Rimpler.
- Mit den Spielern von Leverkusen und Wuppertal zusammen, mit Jann Habbinga, Jens Gottwald, Johannes Schuldt, Simon Timmer, René Rimpler, Basti Preuß, Karl Strempel, Patrick Braunschweig wurde Geri Duwe 1996 Westdeutscher und Deutscher Meister mit Bayer Wuppertal
- Eugen Bakumowski vom VC Minden wurde später deutscher Nationalspieler
- Jann Habbinga, Karl Strempel und Sebastian Preuß spielten später für Bayer Wuppertal in der 1. Bundesliga
- Jonas Reckermann und Albrecht Glitz wurden 2 Jahre später durch einen Boykott der Spieler des Jahrgangs 1977/78 in die WVV – Auswahl zurückgeholt
- Jonas ist der Trauzeuge von Albrecht
- Albrecht Glitz wurde später Stammspieler beim USC Münster in der 2. Bundesliga, wie auch Jonas
- Albrecht durfte Jens Lehmann im Beachvolleyball unterrichten
- Arne Wilkes wurde nach den Westdeutschen in die WVV Auswahl geholt und spielte in der 2. Bundesliga für Bayer Wuppertal
- Ebenso schafften es Basti Preuß, Patrick Braunschweig in die 2. Bundesliga
- Jann Habbinga und Jens Gottwald wurden Jugendsportler des Jahres 1996 in Linnich
- Der Leverkusener Christian Schmidt spielte in den 2000ern in der dritten Liga für die Rote Erde
- Ein spätes Geständnis: Jahre nach den Westdeutschen, verriet der Bundesligaprofi Jann Habbinga Geri, dass er immer in seiner Jugendzeit davon geträumt hat einmal in der Schwelmer Mannschaft zu spielen
- Marc Windgassen war einer der Berichterstatter rund um die Westdeutschen. Heute ist ein beliebter Sportreporter beim ZDF
- Der Grundstein des späteren Wechsels bei RE, von Jungs zu Mädchen, wurde um die Westdeutschen gelegt
Wenn die Jungs von Bayer Wuppertal in meinem Bericht eher negativ dargestellt sind, möchte ich ganz deutlich betonen, dass sie alle ebenso sehr liebe Jungs waren, die wir in Schwelm alle respektiert haben.